top of page

Ist "wissenschaftlich belegt" automatisch richtig?

Immer wieder werde ich bei Vorträgen oder Webinaren nach Studien gefragt oder zitiere sie direkt mit, weil man dann immer das große Nicken im Publikum sieht. Und es gibt Kollegen, die das Prädikat der „Wissenschaftlichkeit“ für sich gepachtet haben. Vorgestern hörte ich aber einen Podcast, der mir noch einmal deutlich gemacht hat, dass jede Studie auch immer noch interpretiert werden kann und muss. Und da sind die Gedanken mal wieder frei.

In meinen Grundlagenseminaren starte ich gerne mit den auf dem Bild zu sehenden Ergebnissen einer großen Studie. Zunächst hatten die Forschenden nur den Tagesablauf von Wildpferden mit denen in heutigen Haltungs- und Fütterungssystemen verglichen, stets mit rationierter Fütterung. Wenig überraschend, dass die Pferde mit rationierter Fütterung deutlich weniger Zeit mit Fressen und dafür mehr mit Rumstehen verbringen. In einem zweiten Schritt wurde dann moderne Haltungssysteme mit Heu zur freien Verfügung dazu genommen. Dann vielleicht doch ein wenig überraschend änderte sich an den Werten zwischen Einzelbox mit Mahlzeiten und Einzelbox mit Heu ad libitum nur dann etwas, wenn Möglichkeit zum Sozialkontakt besteht. Die klassische Boxenhaltung mit Gitterboxen jedoch ergab keine Veränderung, obwohl Futter rund um die Uhr zur Verfügung stand.



Tagesablauf von Pferden in verschiedenen Haltungs- und Fütterungssystemen
Tagesablauf von Pferden in verschiedenen Haltungs- und Fütterungssystemen

Die Interpretation der einen Seite (zu der ich ebenfalls gehöre) dazu ist, dass der Sozialkontakt für Pferde ein grundlegendes Bedürfnis ist und das Fehlen dieses Sozialkontakts dazu führen kann, dass die Pferde von ihrem natürlichen und arttypischen Verhalten abweichen. In der Zwischenzeit gab es immer wieder solche Untersuchungen, die zeigten, dass Pferde in einer klassischen Boxenhaltung ohne Sozialkontakt in der Nacht deutlich weniger fressen würden und deutlich längere Fresspausen als 4 Stunden in der Nacht einlegen würden. Alles Ergebnisse, die in die Interpretation der ersten Studie passen würde.

In besagtem Podcast jedoch kam dieses Ergebnis „diverser“ Untersuchungen auch zur Sprache und wurde so interpretiert, dass die Rückkehr in altbewährte und ruhige Haltungssysteme dafür sorgen kann, dass wir Pferdemenschen uns gar nicht mehr so stressen müssen in Sachen Fresspausen und Fütterung. Die Pferde würden dort von sich aus einfach mehr rumstehen und in die Luft schauen, obwohl Raufutter zur Verfügung steht.

Das ist definitiv eine Möglichkeit, wie man solche Ergebnisse sicher ebenfalls interpretieren und seinen Ansatz damit als "wissenschaftlich fundiert" bekräftigen könnte. Beide Ansätze könnte ich vor euch präsentieren und mit Studienergebnissen belegen. Doch wer hat nun recht? Eigentlich der, dessen Interpretation in eure Blase passt. Wenn euer Ansatz ist, die natürlichen Bedürfnisse der Pferde bestmöglich umzusetzen und der Tagesablauf eines Wildpferdes euer Ziel ist, dann werdet ihr sicherlich eher zu der von mir favorisierten Version tendieren. Wenn ihr jedoch euren Fokus eher in altbewährten Haltungssystemen und Fütterungsansätzen habt, dann wird die zweite Variante sicherlich deutlich mehr überzeugen. Da können dann die härtesten Diskussionen entbrennen und Freundschaften dran zerbrechen. Und trotzdem wird es keine neutrale Betrachtungsweise geben, die hier eine Entscheidung treffen kann.

Das Thema gibt es übrigens bei verschiedenen Studien. Nehmen wir mal die Idee, dass Pferde in Offenstall- oder gar Paddocktrailhaltung mehr Stress haben als Boxenpferden, weil in einer Untersuchung höhere Cortisolspiegel gefunden wurden. Auch das wurde von Befürwortern der Boxenhaltung so ausgelegt, dass diese für die Pferde ja besser wäre, weil sie dort nicht so viel Stress hätten. Die andere Seite argumentiert mit positivem Stress und dem Ansatz, dass zu wenig Stress ja auch negative Auswirkungen auf den Körper haben kann. Das Thema Boreout begleitet mit Appetitlosigkeit, sozialen Rückzug und Schlafstörungen ist beim Menschen ja inzwischen weitreichend beschrieben. Und wer hat hier dann nun Recht?

Ihr seht also, nur weil auf etwas „Studie“ oder „wissenschaftlich“ steht, ist das kein Beweis für einen „richtigen“ oder „besseren“ Ansatz. Am Ende des Tages müsst ihr für euch eine Entscheidung treffen - welchen Weg wollt ihr einschlagen? Und dem solltet ihr dann erstmal folgen, ohne euch direkt vom nächsten Social Media Post wieder aus der Bahn werfen zu lassen. Und wenn in so einem Beitrag in Zukunft das Prädikat „wissenschaftlich“ auftaucht, dann macht euch wirklich die Mühe die Originalstudie selbst zu lesen und euch dann eine eigene Meinung zu bilden. Über den Aufbau der Studie, die Ergebnisse und die Interpretation. ​Wenn ihr dann neue Erkenntnisse für euch gesammelt habt, dann könnt ihr euren Weg überdenken. Und natürlich immer dann, wenn euer Pferd euch dazu Anstoß gibt. Denn die haben einfach immer recht - ganz unwissenschaftlich!

Comentários


Shop

Online-Kurse
Beratung
Live Termine

Kontakt

+ (49) 172 8331062
info@natuerliche-pferdefuetterung.de

Rechtliches

© 2025 Frais. Erstellt mit Wix.com

bottom of page